@fkleedorfer Mal wieder etwas zu unserer "ewigen" Lesekreis-Diskussion:

"Das Negative kann nicht gedacht werden, ohne daß in seinem Gedanken das Positive vorausgesetzt ist. Der Begriff des Negativen schließt den des Absoluten mit ein, der des Nichts den des Etwas. Die Kritik an der schlechten Gesellschaft setzt die Möglichkeit einer guten Gesellschaft voraus. Ohne Einbeziehung des Positiven wird jede Aussage über das Negative inhaltslos, sinnlos. Aber vom Positiven kann und darf man sich kein Bild machen."
(Max Horkheimer)

Lexi | 05.11.16 09:01 | 14 comments
Edit | Back |
comments

Warum darf man sich vom Positiven kein Bild machen, weißt du das?

jensitus | 05.11.16 13:18


Eines der Argumente ist, das diese Bilder, wenn sie im Stande der herrschenden bzw. unversöhnten Gesellschaft gemacht würden, so mit dem Schlechten durchsetzt wären, dass sie kein Gegenbild abgeben würden.

Lexi | 07.11.16 08:53


Ein anderes wäre, dass Utopie das Ganz andere darstellen muss, dass aber ein Bild, weil es ein Begrenztes ist, dieses ganz Andere nicht darstellen könne bzw. es gleich wieder beschränke.

Lexi | 07.11.16 08:55


Wahrheit müsse das Absolute sein, die Einzelaussage, durch die dieses Absolute nur erreicht werden könne, könne dieses Absolute aber zugleich nicht unmittelbar darstellen, eben weil sie als Einzelaussage bedingt ist. Deswegen darf es der Darstellung sozusagen nur als zu erreichende Utopie unterlegt sein - Einzelaussagen dürfen sich aber nicht dazu verleiten lassen zu behaupten, sie hätten dieses Absolute schon. Dann würden sie zu Ideologie: zu falscher und erkaufter Sinnstiftung werden.

Lexi | 07.11.16 08:59


Diese Argumentation kommt aus der - materialistischen - Rezeption des jüdischen Bilderverbots. In der »Dialektik der Aufklärung« deuten Adorno und Horkheimer das so: »Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig an das Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. Die Verneinung freilich ist nicht abstrakt. Die unterschiedslose Bestreitung jedes Positiven, die stereotype Formel der Nichtigkeit, wie der Buddhismus sie anwendet, setzt sich über das Verbot, das Absolute mit Namen zu nennen, ebenso hinweg wie sein Gegenteil, der Pantheismus, oder seine Fratze, die bürgerliche Skepsis. Die Erklärungen der Welt als des Nichts oder Alls sind Mythologien und die garantierten Pfade zur Erlösung sublimierte magische Praktiken. Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«

Lexi | 07.11.16 08:59


Vielen Dank für die Ausführungen! Das ist dann ein Kreis, der sich nie schließt, oder?

jensitus | 08.11.16 18:02


Wenn man das Negative nicht denken kann, ohne das Positive in seinen Gedanken vorrauszusetzen, sich gleichzeitig vom Positiven aber kein Bild machen darf, um zu vermeiden, dass dieses vom Schlechten durchsetzt ist, usw, kann man ja irgendwann das Negative gar nicht mehr denken, weil sich das Positive in den eigenen Gedanken nur schwer vorraussetzen lässt.

jensitus | 08.11.16 18:08


(Jetzt kenn ich natürlich eure Lesekreisdiskussionen nicht, also verzeiht mir bitte den am Ende unqualifizierten Einwurf)

jensitus | 08.11.16 18:09


Wie ist in diesem Kontext eigentlich das Web of Needs von @fkleedorfer zu beurteilen?

jensitus | 08.11.16 18:10


Der Einwand, den Du machst, ist auch so ein bisschen der Einwand, den Flo in den angesprochenen Lesekreis-Diskussionen immer bringt. Für die Erkenntnisutopie von Horkheimer und Adorno ist dies ein Widerspruch, den Erkennntis aushalten muss, wenn sie nicht zur Bejahung des Bestehenden werden soll. Und sozusagen die Nagelprobe, ob bzw. die durch nichts außer den Gedanken gedeckte Hoffnung darauf, dass eine Überwindung der Herrschaft doch möglich ist.

Lexi | 09.11.16 07:15


Adorno formuliert das so: "Die Arbeit philosophischer Selbstreflexion besteht darin, jene Paradoxie auseinanderzulegen. Alles andere ist Signifikation, Nachkonstruktion, heute wie zu Hegels Zeiten vorphilosophisch. Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, daß es der Philosophie doch möglich sei; daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivetät, an der sie krankt. Sonst muß sie kapitulieren und mit ihr aller Geist. Nicht die einfachste Operation ließe sich denken, keine Wahrheit ware, emphatisch wäre alles nur nichts. Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen. Ein solcher Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Möglichkeit."

Lexi | 09.11.16 07:21


Ist also einerseits Hegel, aber eben negativ gewendet, weil Hegel das den Begriffen Unterlegte eben doch positiv wendet und zum "absoluten Geist" hypostasiert. Und damit andererseits Kant, aber eben genauso kritisch, weil bei Kant das Ding an sich als unerkennbar gefasst ist, und der Prozess damit wirklich zur unendlichen Aufgabe wird. Das zentrale Problem kritischer Theorie ist ja genau das: Wie ist Denken der Versöhung möglich, ohne diese Versöhnung im Begriff bereits schon als Positives zu unterstellen?

Lexi | 09.11.16 07:21


Web of Needs war zu Beginn stark von der Adorno/Bloch Radiodiskussion motiviert, in der sich Adorno in die "unerwartete Rolle des Anwalts des Positiven" begibt (erste 90 sekunden in diesem Video: https://www.youtube.com/watch?v=Xib00t_VHjg): man sollte herausarbeiten, was denn eigentlich auf dem Stand der Produktivkräfte möglich ist, und dabei möglichst wenig positiv voraussetzen. Dieses Wenige war meiner Ansicht nach: Bedürfnisse und Möglichkeiten der Befriedigung formulieren und ein Medium schaffen, in dem die Verbindung dieser Pole verhandelt werden kann. Das ist natürlich nicht die Versöhnung, sondern einfach ein technisches Projekt. Allerdings ist es von allen mir bekannten, einschlägigen Projekten das, das meines Erachtens am wenigsten Voraussetzungen macht - überall sonst wird fleißig mit Tokens, Coins, Stunden oder Reputation herumgetauscht und verschiedenste Systeme bestimmen, wer wieviel vom Kuchen bekommt. In diesen Ideen steckt deutlich mehr positives Ausmalen und obwohl sie als Modelle/Experimente alternativen Wirtschaftens gemeint sind, sind sie doch eine recht genaue Kopie des Bestehenden, meist mit mutwilliger und angestrengter Unterdrückung eines Aspekts (meistens: des Geldes), was sich dann auch als recht unpraktisch erweist. Vielleicht ist unser Projekt insofern ja tatsächlich ziemlich negativ. Aber ein bisschen was positives braucht man, sonst kann man nichts programmieren.

fkleedorfer | 09.11.16 17:26


https://youtu.be/VDWQufIqE9w nachtrag

fkleedorfer | 30.11.16 00:04


login, if you like to comment