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Ein kleiner Bericht aus Kunduz, Afghanistan
Zur Zeit halte ich mich in Kunduz, Afghanistan auf. Ich bin dort mit Ärzte ohne Grenzen als sogenannter „Ortho surgeon“ unterwegs im Kunduz Trauma Center. Das Krankenhaus hat eine längere Tradition (s.weiter unten) und ist zusammen mit dem Regionalkrankenhaus das einzige Krankenhaus in der Region, die immerhin knapp über eine Million Einwohner:innen zu versorgen hat. Geschichten über Afghanistan und der aktuelle Werdegang sind ja relativ bekannt und in unseren Medien ausführlich geschildert. Deswegen möchte ich nur kurz auf einige Dinge eingehen, die mir auffallen hier und die ich im Vorfeld gelesen habe: Ähnlich wie der Jemen ist auch Afghanistan in den heutigen Grenzen ein künstliches Staatsgebilde aus der Zeit des Imperialismus. Allerdings gab es hier schon im 18. Jahrhundert das erste Mal einen „unabhängigen Staat“, der ursprünglich Teil Persiens war. Letzlich sind – ein bisschen wie im Jemen - auch hier verschiedene Ethnien in ungünstiger Mischung mit einer patriachal-strikten Staatsreligion für die meisten und schlimmsten Auseinandersetzungen verantwortlich. Die beiden größten Gruppen stellen die Paschtunen und die Tadschiken. Daneben existieren die Hazara, Usbeken und Sayyiden. Die Paschtunen hatten für lange Zeit die politische Macht, sowohl unter der sowjetischen, wie auch unter der amerikanischen Besatzung. Die Taliban sind eher als eine religiöse Bewegung einzuschätzen, sind aber ebenfalls v.a. Paschtu. Was die Sache noch ein wenig komplizierter macht, sind die zwei verschiedenen Amtssprachen (Paschtu und Dari – eine Form des Persischen).
Kunduz liegt im Norden Afghanistan, keine 100 km Luftlinie von der tadschikischen Grenze entfernt. In der NATO-Besatzungszeit waren hier von 2001 bis 2010 deutsche Truppen stationiert und haben in der Bevölkerung eine hohe Achtung erzielt: es wurden offensichtlich mit ihrer Hilfe viele Strassen gebaut und insgesamt die> Infrastruktur vorangebracht. Über den berüchtigten Abschuß der Tanklaster auf Initiative der Deutschen wird hier nicht gesprochen. Wie seltsam eine „Nation“ wahrgenommen wird, läßt sich vielleicht daran sehen, dass ich schon zweimal darauf angesprochen wurde, dass ja der tolle Hitler schließlich auch aus Deutschland war. Das begründet sich tatsächlich auf die Bestrebungen der Nazis, in Afghanistan eine Basis zu schaffen.
Auch die Geschichte des Krankenhauses ist bemerkenswert: Das MSF Kunduz Trauma Center öffnete 2011 und war als großes Krankenhaus mit fast 80 Betten und 2 OP´s ausgestattet. Es wurden vor allem Verletzte aus Verkehrsunfällen und kriegerischen Auseinandersetzungen versorgt. 2014/15 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der damaligen Regierung und den Taliban. Die Bombardierung des KTC am 3. Oktober 2015 durch die Amis erfolgte aufgrund der Anschuldigung durch die afghanische Armee, MSF würde Taliban im Gelände aufnehmen und damit schützen (was Quatsch war). Dabei kamen 14 Krankenhausbeschäftigte und 28 Pat. und Angehörige ums Leben. Die Amis hatten die Koordinaten des MSF-Hospitals und wußten, dass sie dieses bombardieren. Eine genauere Untersuchung des Vorfalls wurde durch MSF immer wieder gefordert, nach Veröffentlichung des Reports 2018 durch die USA stellte MSF 10 essentielle Fragen, welche aber nie beantwortet wurden. Die Amis haben mehrere Millionen Dollar zum Wiederaufbau des Krankenhauses angeboten, diese wurden aber von MSF nicht angenommen. Ein amerikanischer General kam persönlich nach Kunduz um sich bei den Angehörigen der Toten zu entschuldigen, ihm wurde ins Gesicht gespuckt und er wurde von einer afghanischen Mutter als „motherfucker“ beschimpft. Um zu zeigen, dass sie trotzdem helfen, wurde das Krankenhaus von MSF an einer anderen Stelle (5 Autominuten entfernt) erneut zunächst als Provisorium wieder geplant und aufgebaut. Aufgrund der anhaltenden Kämpfe verzögerte sich die Eröffnung bis 2021. Aktuell befindet sich hier noch viel im Aufbau. Versorgt werden weiterhin in erster Linie Verletzungen aus Unfällen jeglicher Art und Verletzungen durch Minen und Schüsse (häufig akzidentell). Betroffen sind Jungen und junge Männer zwischen 10 und 20 Jahren. Diese machen ca. 70 Prozent unserer Verletzten aus. Besonders tragisch ist, dass die Jungs wohl gerne mit gefundenen Kleinbomben und Minen sowie mit Gewehren spielen, die dann losgehen und Hände und Beine, aber auch mal eine Schulter zerfetzen.
Die Sicherheitsmassnahmen sind enorm, wir sind von einer ca. 6 m hohen Mauer umgeben, eine zweite Mauer wird gerade gebaut. Alle „Expats“ müssen sowohl Mobiltelefon als auch Walkie-Talkie immer bei sich tragen. Es gibt 8 „Safety-Rooms“, in denen wir Unterschlupf finden sollen, wenn ein Angriff stattfindet. Alle Autos werden kontrolliert, ähnlich wie an der deutsch-deutschen Grenze von früher. Alle Personen werden mit Metalldetektor beim Eintritt überprüft, auch das Personal!
Von einer „extremen“ Zunahme der Frauenunterdrückung, wie in unseren Medien berichtet, merken wir hier drinnen nicht viel. Da habe ich den Jemen als wesentlich bedrückender empfunden. Das mag aber daran liegen, dass wir hier keinen Einblick in das Leben der „Normalbevölkerung“ haben. Die Leute hier berichten, dass seit Regierungsbeginn der Taliban auf jeden Fall das Leben wieder sicherer geworden sei. Klar: wenn der Terrorist regiert, gibt es weniger Terroranschläge…. Aktuell gibt es aber zumindest in Kabul wieder fast jeden Tag einen Anschlag, in erster Linie durch den Islamischen Staat, der mit allen Mitteln die Taliban bekämpft und selbst an die Macht kommen möchte. Zudem finden noch mit verschiedenen „Befreiungsarmeen“ Kämpfe in den Bergen an der Grenze zu Pakistan und zu Tadschikistan statt.
Wie auch im Jemen ist hier ein Ende der Kämpfe nicht in Sicht, auch nach oder gerade wegen (?) des Rückzugs der NATO-Truppen und der UN. Nur noch wenige NGO arbeiten hier, deren Arbeit wird aber von der Bevölkerung sehr geschätzt.
Aktuell ist die Sicherheitslage hier eher ruhig, hinaus dürfen wir trotzdem nicht. Da das Krankenhaus-Gelände aber relativ groß ist, ist das schon in Ordnung. Die Sonne scheint, tagsüber hat es noch 16-20 Grad, die Nächte sind kalt (6-8 Grad). Von Weihnachten hier natürlich keine Spur, nur unsere Expats haben natürlich einen kleinen Weihnachtsbaum aufgebaut.
Zwei Dinge fallen mir diesmal besonders auf: wir sind in Europa schon ausgesprochen fokussiert auf uns und verstehen augenscheinlich nicht, dass wir nur wenige sind im Vergleich zum Rest der Welt. Das fällt mir hier irgendwie besonders auf: die Kultur, das Verständnis, unsere Vorstellungen eines „guten“ Lebens, das ist weit entfernt von den hiesigen Bedürfnissen und Realitäten. Zum Zweiten merke ich, dass es mir diesmal eher noch schwerer fällt mich darauf einzulassen, als das letzte Mal im Jemen. Unsicherheit im täglichen Leben und gleichzeitig die Vorgaben der Staatsreligion sind eine unglückliche Mischung, auf der einen Seite gibt es nicht genug zu essen, auf der anderen Seite wird das Essen in unserer Kantine ständig weggeschmissen. Auf der einen Seite sind die Leute arm, auf der anderen Seite haben wirklich alle mittlerweile ein Smartphone. Das klingt alles ein wenig einfältig, mir fällt aber gerade nicht ein, wie es anders formulieren soll.
Auf jeden Fall freue ich mich auf zuhause, noch knapp 5 Wochen, dann geht es wieder zurück.
Also fassen wir mal zusammen: Die iranischen Spieler riskieren ihr Leben, weil sie aus Solidarität mit der Protestbewegung daheim die Hymne nicht singen.
Der DFB und die anderen europäischen Lulu-Verbände scheißen sich an, weil die FIFA mit Gelben Karten droht, sollten die Kapitäne mit One-Love Armbinden auflaufen.
Die Vegetarier sagen, die Fleischesser waren es.
Die Fleischesser sagen, die Veganer waren es.
Und die Veganer sagen, alle anderen sind schuld.
Wie nennt man das eigentlich, wenn man aus Erfahrung dümmer wird?